Greift der Staat in die Gestaltung des Privat- und Familienlebens ein?

Dr.in Christine Kolbitsch, Rechtsanwältin und Verteidigerin in Strafsachen

Das Justizministerium arbeitet seit Jahren an einer Kindrechtsreform, das dem Vernehmen nach grundsätzliche Neuerungen im Bereich Unterhalt, Obsorge (=“elterliche Verantwortung“) und Kontaktrecht mit sich bringen soll.

Erstaunlich daran ist, dass die Fachöffentlichkeit (oder jedenfalls die Vertreterinnen von Frauenorganisationen), die ja in ein so wichtiges Gesetzgebungsprojekt eingebunden werden sollte(n), trotz wiederholter Nachfrage nicht darüber informiert wurde, wie diese Neuerungen nach den Vorstellungen der Frau Justizministerin im Einzelnen aussehen sollen.

Daher wissen wir über die Inhalte der Reform nur vom Hörensagen, obwohl es sich beim Kindschaftsrecht um eine Materie von großem gesellschaftlichen Interesse handelt.

Aus meiner Sicht ist ein wirklicher Reformbedarf bei der elterlichen Verantwortung, wie die Obsorge hinkünftig heißen soll, und beim Kontaktrecht nicht zu erkennen. Sehr wohl gibt es Neuerungsbedarf beim Unterhaltsrecht, zumal die von der Rechtsprechung entwickelte Unterhaltsberechnungsmethode für die Praxis zu kompliziert geworden ist. Insidern zufolge soll es jedoch nach dem Reformwerk mit dem Unterhalt noch komplizierter werden.

Auch bei nur rudimentärem Wissen über das Gesetzesvorhaben möchte ich daran Kritik äußern, nämlich dass dem Vernehmen nach

  • dem getrennt lebenden Elternteil, unabhängig von einer Ehe oder früheren Partnerschaft, dh. auch bei einem Kind nach einem „One-Night-Stand“, von Gesetzes wegen ein Mindestbetreuungsausmaß von 120 Tagen pro Jahr (1/3) zuerkannt werden soll. Dies prinzipiell unabhängig davon, ob bzw. in welchem Ausmaß dieser Elternteil das Kind vor der Trennung betreut hat und ob er künftig das Kind persönlich betreuen kann oder die Betreuung an dritte Personen (etwa seine Lebensgefährtin, seine Mutter u.a.) delegieren muss. Dieses Mindestmaß an Betreuung soll ab dem vollendeten dritten Lebensjahr eines jeden Kindes im Prinzip ohne Ausnahme zuerkannt werden, zwischen dem ersten und dem dritten vollendeten Lebensjahr soll es unter bestimmten Voraussetzungen ebenfalls rechtlich zuerkannt werden können;
  • dass die sogenannte „Doppelresidenz“ künftig vom Gericht auch gegen den Willen der Eltern angeordnet werden kann (mit wenigen Ausnahmen);
  • dass getrennt lebende Elternteile verpflichtet werden sollen, ihren künftigen Kontakt mit dem Kind bereits im Vorhinein in Form eines Betreuungsplans genau nach Tagen festzulegen und dem Pflegschaftsgericht bekanntzugeben und diesen Betreuungsplan verpflichtend in eine „Betreuungsapp“ einzutragen.

Damit greift der Staat meines Erachtens erheblich in die Gestaltung des Privat- und Familienlebens ein, und das, obwohl man sich in einem anderen Rechtsbereich, nämlich beim Wechsel von der Sachwalterschaft zur Erwachsenenvertretung, zu Recht genau gegen einen solchen staatlichen Paternalismus, gegen ein obrigkeitliches Hineindirigieren in die Privat- und Familiensphäre entschieden hat.

  • dass als Konsequenz aus der gesetzlich angeordneten Mindestbetreuung der Unterhalt des Kindes – eben wegen der dem Umfang nach veränderten Betreuungsverhältnisse – beträchtlich gekürzt wird und dadurch minderverdienende Elternteile, insbesondere Alleinerzieherinnen, existenziell gefährdet werden, weil sie für die Finanzierung des notwendigen Lebensbedarfs (Fixkosten wie Strom, Miete u.a.) nicht mehr aufkommen können.